Start / Religiolexikon / A / Abhängigkeit

Religiolexikon

Abhängigkeit

GND-Nummer

4000145-3

Oberbegriff
Synonyme
  • Dependenz
  • Unselbständigkeit
  • Unselbstständigkeit
Verwandte Begriffe
Kurztext

"Abhängigkeit steht generell für eine dringende Angewiesenheit zwischen Personen oder einzelner Personen von Substanzen oder anderen Umständen, im Einzelnen:

Das Phänomen der Abhängigkeit beruht auf tiefliegenden Mechanismen unserer Psyche. Abhängigkeit bedeutet Zugehörigkeit zum Sozialverband, zum sexuellen Partner, zu Mutter und Vater. Ohne diesen Mechanismus wäre es dem Menschen nicht möglich, soziale Bindungen aufzubauen.

Allerdings kann die Wirksamkeit oder Zielrichtung dieses Mechanismus missbraucht und manipuliert werden. Die Konsequenzen solchen Missbrauches sind am Beispiel religiöser Abhängigkeitssyndrome sehr gut deutlich zu machen.

Haupttext

Im Kontext der Religionsgeschichte spielen hauptsächlich die substanzgebundene und substanzungebundene Hörigkeit eine wichtige Rolle. So missbrauchen oft Führer, entweder unbewusst oder bewusst, den Mechanismus der Abhängigkeit, um ihre Machtphantasien gegenüber ihren Anhängern auszuleben. Margaret Thaler Singer hat in ihrem Buch Sekten: Wie Menschen ihre Freiheit verlieren und wiedergewinnen können die Mechanismen der Beeinflussung und des Schaffens von Abhängigkeiten beschrieben.

Am Anfang einer Sektenmitgliedschaft steht der erste fatale Schritt. [a.a.O. S. 143f.] Werber filtern aus der Menge ihrer Zielgruppe mit Charme und Schmeichelei die heraus, die arglos, interessiert, verletzlich und vielleicht auch in einer aktuellen seelischen Umbruchsituation sind. Sie laden sie ein, bildlich gesprochen, sie öffnen ihre Arme weit, um das Opfer später dann um so fester zu umklammern. Diesem ersten Schritt folgt dann der erste Kontakt mit der Sekte, bei dem der Neuankömmling mit Freundlichkeit und Aufmerksamkeit gleichsam überschüttet wird: Es wird bei ihm das Gefühl induziert, man tue alles nur um seinetwillen. Das löst ein Gefühl der Dankbarkeit aus, auf dem dann die weitere Programmierung durch die Führer der Gruppe, verb. [a.a.O.]  Diese Art der fast vollständigen Abhängigkeit gestandener Persönlichkeiten von einem "Führer" ist es, die betroffene Angehörige von Sektenmitgliedern, aber auch die Öffentlichkeit immer wieder beschäftigt.

Physiologische Methoden der Beeinflussung

Es ist seit langem bekannt, daß bestimmte Techniken, vorhersagbare physiologisch Reaktionen hervorrufen. Dazu zählen Hyperventilation, repetitive Bewegung, Eingriffe in Ernährung, Schlaf und Streßniveau, Körpermanipulationen und enspannungsinduzierte Angst.

Hyperventilation

Dieser Zustand einer Übersättigung des Blutes mit Sauerstoff führt zu einem Abfall des Kohlendioxydspiegels im Blut, was zu einem Überschuß an Alkali im Blut führt. Die Folge ist eine respiratorische Alkalose, die in milder Form zu Schwindelgefühl und Benommenheit bis zu einem rauschähnlichen Zustand in schweren Fällen führt, der über krampfartige Schmerzen und Herzrhytmusstörungen in einer Ohnmacht münden kann. Diese Symptome sind beispielsweise Bergführern wohlbekannt, die ungeübte Touristen auf Bergwanderungen im Hochgebirge führen. Von den Sektenführern werden diese Symptome dadurch herbeigeführt, daß sie die Gruppe lang anhaltend laut singen und schreien lassen. Die Symptome der Hyperventilation werden aber nach Abklingen der Symptome als "Gottensnähe" oder "wahre Gefühle" gedeutet, was natürlich blanker Unsinn ist.

Repetitive Bewegung

Langanhaltende Schaukelbewegungen, verbunden mit monotoner Musik, wie das beispielsweise bei bestimmten hinduistischen Sekten praktiziert wird, führt zu einem veränderten Bewußtseinszustand. Das kann im Extremfall zu einer Extase führen, die dann in tiefer Trance endet.

Eingriffe in Ernährung, Schlaf und Streßniveau

Werden die Ernährung, der Schlafrhytmus und das allgemeine Streßniveau einer Person plötzlich verändert, treten vorhersagbare physiologische Reaktionen auf. Auftretende Magen--Darmstörungen werden dann von den Sektenführern als "Satan im Leib" gedeutet, den es auszutreiben gilt. Einige Gruppen, besonders hinduistische und östlich--religiöse Gruppen verlangen von ihren Mitgliedern eine einseitige vegetarische Ernährung. Das führt zum Eiweiß-Mangelsyndrom und hormonellen Veränderungen. Gerade das ist besonders bei Mitgliedern von Hare Krishna oft zu beobachten. Andere Gruppen setzen exzeßhaften Saunabesuch, Einläufe und extreme Vitamingaben ein, um den Stoffwechsel der Mitglieder zum Entgleisen zu bringen. Der hieraus folgende Zustand des Unwohlseins und der Körperveränderungen wird dann von den Führern als Beweis ihrer Lehre interpretiert.

Körpermanipulation

Einige Gruppen verwenden Körpermanipulationen, um Schmerzen zu erzeugen. Diese Schmerzen werden benutzt, die Mitglieder auf die Lehren des Führers zu konditionieren. "Ohne Schmerz kein Fortschritt!"

Entspannungsinduzierte Angst

Aus religiöser Praxis der Meditation ist schon seit Jahrhunderten bekannt, daß Meditierende auch schlimme Angst erleben können. Statt Entspannung kann immer auch furchtbare Angst auftreten. In der seriösen Meditation wird dann durch den Meister diese sofort abgebrochen, um unerwünschte Symptome zu vermeiden. Sekten nutzen das aber aus, um ihre Anhänger zur Abhängigkeit zu konditionieren. Diese Symptome werden als Entstessungssymptome interpretiert, denen man, so sagen diese Quacksalber, nur durch weitere intensivere Meditation begegnen könne.

... Jahrhundertelang wurden Meditationsübungen innerhalb eines spezifischen aus Wissen und Glauben zusammengesetzten Weltbildes gelehrt. Im Gegensatz zu diesen altehrwürdigen Traditionen, in denen verantwortliche Lehrer ihre Schüler individuell geführt haben, so daß schädliche Wirkungen vermieden werden konnten, wird Meditiation heute als Ware auf dem Massenmarkt angeboten. Wie die Beispiele gezeigt haben, birgt die Massenanwendung eines Prozesses, der bekanntermaßen destabilisierende emotionale Wirkungen haben kann, Gefahren für den einzelnen. Aber wie es in Sekten üblich ist, denkt der Führer nur an sich und seinen Erfolg ("Millionen praktizieren meine Meditationstechnik") und ignoriert die schädlichen Wirkungen auf bestimmte Anhänger [a.a.O. S. 180]

In diesem Kontext ist es auch zu verstehen, warum die Enquete-Kommission des Bundestages, die sich mit dem Einfluß der Sekten in Deutschland befaßt, einen Verbraucherschutz für die Verbraucher psychologischer und meditativer Techniken fordert. Meditation ist ein mächtiges Werkzeug. In der Hand des Verantwortlichen und Erfahrenen kann es hilfreich sein und inneren Frieden stiften, aber in der Hand des Gewissenlosen wird sie zur furchtbaren, persönlichkeitszerstörenden Waffe.

Psychologische Überzeugungstechniken

Sekten arbeiten mit einem Bündel von psychologischen Überzeugungstechniken, die hochwirksam sind, aber in der Hand des gewissenlosen Quacksalbers zu einer Gefahr werden. Trance, Hypnose, Revision der persönlichen Lebensgeschichte, emotionale Manipulation und Gruppendruck -- das sind die Mittel, um Macht über Persönlichkeiten zu erlangen. Margret Singer weist im Anschluß an Robert Cialdini darauf hin, daß jedes Individuum dazu neigt, sich in fixierten Verhaltensmustern zu bewegen. Diese Verhaltensmuster stellen eine Art "gelerntes Sozialverhalten" dar, mit dem wir uns in der Welt bewegen. Werden diese Verhaltensmuster nun von Manipulateuren mißbraucht, so bemerkt das der Betroffene kaum.

Nach Cialdini kann man den größten Teil der unzähligen verschiedenen Taktiken, mit denen die professionellen Manipulateure arbeiten, sechs Kategorien zuordnen, von denen jede auf einem psychologischen Prinzip beruht, das das menschliche Verhalten steuert. Diese sechs Prinzipien sind folgende:

  1. Konsistenz: Wir versuchen unser früheres Verhalten zu rechtfertigen.
  2. Reziprozität: Wenn uns jemand etwas gibt, dann versuchen wir, in derselben Münze zurückzuzahlen.
  3. Außenorientierung: Wir versuchen festzustellen, was andere Leute für korrekt halten.
  4. Autorität: Wir haben ein tiefsitzendes Pflichtgefühl gegenüber Autoritätsfiguren.
  5. Zuneigung: Wir gehorchen Menschen, die wir mögen.
  6. Knappheit: Wenn wir etwas haben wollen, kann man uns Angst machen, es könnte weg sein, wenn wir zu lange warten. Die Gelegenheit, es zu bekommen, kann vorbei sein. Wir wollen es jetzt -- was immer das Angebot sein mag, von einem beliebigen Gegenstand bis zu kosmischem Bewußtsein.

An Beispielen belegt die Autorin nun die Wirksamkeit dieser Mechanismen, um dann in den letzten beiden Kapiteln des zweiten Teiles des Buches sich dem Eindringen von Sekten in die Arbeitswelt und dem Thema der Drohung und Einschüchterung der Sekten gegenüber Kritikern zuzuwenden. Besonders dankbar wird der Leser zur Kenntnis nehmen, daß Margret Singer dem Eindringen von Sekten in die Arbeitswelt ein besonderes Kapitel widmet, wobei sie besonders das Gebiet der Managementkurse im Blick hat. Die Notwendigkeit hierzu leitet sie aus folgendem ab:

  1. Es gibt Angebote, die "motivieren oder transformieren" wollen, wobei unklar bleibt, was hierunter genau zu verstehen ist.
  2. Es soll darauf aufmerksam gemacht werden, daß gewisse Trainingsprogramme die gleichen Methoden der intensiven Beeinflussung benutzen wie Sekten.
  3. Die Lebensphilosophie, die von vielen dieser Programme vertreten wird, berührt religiöse und persönliche Glaubensfragen.

[vgl. a.a.O. S. 218ff.]

Dabei wird oft so getan, als ob das in solchen Programmen angebotene dümmliche New-Age-Geschwafel das Modernste vom Modernen sei. Wenn dann noch Chefs ihre Machtposition gegenüber ihren Angestellten ausnutzen, um diese zu solchen Kursen zu schicken, dann wird das Problem vollends deutlich.

So ist der Arbeitsplatz zu einer Arena geworden, wo mehrere soziale und psychologische Phänomene zusammentreffen: Die New-Age-Bewegung, das Streben der Wirtschaft, auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig zu sein, und die Neigung unserer Nation, an Selbstvervollkommnung zu glauben. Diese Situation machen sich gewisse Sekten zu nutze, um in die Arbeitswelt einzudringen. [a.a.O. S. 223]

An Fallbeispielen und konkreten Gruppen stellt die Autorin dar, wie sich aus der Teilnahme an solchen Trainings psychische Zusammenbrüche, Entgleisungen und massive Streßsymptome ergeben können. Der Protest richtet sich nicht gegen echte berufsbezogene Fortbildungsprogramme, sondern dagegen, daß Arbeitnehmer ohne ihre Zustimmung zu Trainings abgeordnet werden, die sie nicht ihre berufliche Arbeit ausbilden, sondern ihre religiösen und persönlichen Überzeugungen erschüttern und ihre Persönlichkeit, ja ihr innerstes Selbst attackieren und schädigen. [a.a.O. S. 248]

Die wachsende wirtschaftliche und finanzielle Potenz von Sekten führt in der Gegenwart dazu, daß diese Gruppen sehr wohl in der Lage sind, Kritiker zum Schweigen zu bringen. Jeder, der auf dem Gebiet der Sektenprävention und der Ausstiegsberatung arbeitet, hat schon mit Repressalien und Drohungen zu tun gehabt. So führen bestimmte Sekten Prozesse, nicht um zu gewinnen, sondern um Zeit und Geld bei den Kritikern zu binden. Verlage, die kritische Literatur verlegen, werden in teure Prozesse verwickelt.

In manchen Fällen sind Bücher über Sekten nur deswegen erschienen, weil Verleger und Autoren finanziell in der Lage waren, sich dem Versuch gewisser Sekten zu widersetzen, die Veröffentlichung von Forschungsergebnissen zu hintertreiben. Viele der großen internationalen Sekten verfügen über fast unbegrenzte finanzielle Mittel und die Macht, Verleger, Zeitungen, Fernsehproduzenten, akademische Forscher, Fachkräfte und jeden anderen einzuschüchtern, der öffentlich gegen Sekten Stellung nimmt. Wenn es Sekten und ihren Sympatisanten gelingt, die Veröffentlichung von wissenschaftlichen Studien über ihre Gruppen und die Biographie ihrer Führer und offene kritische Anmerkungen von Sozialwissenschaftlern zu blockieren, dann werden die Sekten selbst zu Schiedsrichtern darüber, was die Welt erfahren darf. Ohne eine freie Presse, wissenschaftliche Veröffentlichungen, offene kritische Stellungnahmen und ohne die Möglichkeit der freien Meinungsäußerung sind wir alle der Willkür von Sektenführern ausgeliefert, die darüber bestimmen, was wir lesen, was wir sagen, was wir denken dürfen. Orwells 1984 könnte dann Wirklichkeit werden.

Gerade auf diesem Gebiet toben zur Zeit in ganz Europa erbarmungslose Kämpfe. Margret Singer ist von einem sympatischen Optimismus geprägt, daß Ehrlichkeit, berufliche Verantwortung und Integrität in den meisten Fällen die Oberhand behalten wird. Dem können wir nur zustimmen. Doch es ist auch klar, daß das nicht ohne Kampf und Rückschläge geschieht. Je mehr Menschen sich dem totalitären Machtwahn sektiererischer Demagogen widersetzen, um so freier kann seriöse Forschung und Meinungsäußerung leben.

Zusammenfassung

Abhängigkeiten können in allen Bereichen des menschlichen Lebens entweder durch Krankheiten oder aber durch künstliche Einwirkung und manipulative Psychotechniken entstehen. Damit finden wir sowohl im religiösen, familiären und sexuellen als auch im wissenschaftlichen oder politischen Bereich Abhängigkeitssyndrome.

Bibliographie

Deutsche Nationalbibliothek

Quellenlinks
Autoren Winfried Müller
Geändert 04.04.2018